Am Dienstag sollte es eigentlich weitergehen nach Kiew. Wie es in der Ukraine allgemein empfehlenswert ist, hatte ich mein Auto auf einem bewachten Parkplatz in Lemberg abgestellt. Wie ich am Dienstag morgen aber feststellen mußte hätte ich mir das sparen können. Mein Auto hatte sich nämlich in der Zeit meiner Abwesenheit die perfekte Wegfahrsperre zugelegt: Einen platten Reifen hinten links. Unter vielen ungarischen Flüchen habe dann in Rekordzeit das Rad durch das Ersatzrad ersetzt und wir sind mit Sack und Pack Richtung Kiew aufgebrochen. Am Ortsausgang von Lemberg fanden wir glücklicherweise einen Reifenservice, der uns weiterhalf. In den Reifenmantel hatte sich ein 5 cm langer Nagel hineingebohrt, der aber glücklicherweise die Luft nur langsam aus dem Reifen entließ. Da die Gummis hinten eh nicht mehr die besten waren, entschloß ich mich spontan beide Reifen auswechseln zu lassen. Einen großen entgeisterten Lacher rief bei allen Beteiligten dabei die Befestigung des Auspuffs hervor. Ein Scherzkeks aus der Werkstatt in Deutschland, wo ich das Auto gekauft hatte, mußte eine defekte Gummi-Manschette, die normalerweise den Auspuff hält, durch hauchdünnen mittlerweile gut korrodierten Draht ersetzt haben. Das haben wir dann gleich mal in der Werkstatt durch eine stabilere aber genauso improvisierte Drahtkonstruktion ersetzen lassen. Der Auspuff wäre mir sonst sicherlich auf den nächsten 2000 km irgendwo in der Ukraine abhanden gekommen. Wozu Reifenpannen nicht immer gut sein können.
Die weitere Fahrt nach Kiew verlief ohne größere Zwischenfälle, so daß wir nach 9 Stunden Fahrzeit gegen 18:30 Uhr in Kiew waren. Die Hotelsuche gestaltete sich wieder als schwierig, weil wir im Vorfeld kein Hotel buchen konnten (es war nie jemand erreichbar). Nachdem wir fünf Hotels abgeklappert hatten, unsere erste Wahl hatte nix mehr frei und fast alle anderen waren superteuer, entschieden wir uns für eine Kompromißlösung. Für die ersten beiden Nächte nahmen wir ein sehr preiswertes und sehr gutes Appartement, welche es allerdings für die folgenden zwei Nächte schon gebucht war. Dahr zogen wir dann für schlappe 90 € ins “erste Haus am Platz”, ins Hotel Ukraina am Cherschatschik, und hatten damit einen super Blick aus dem 12. Stock über die Stadt.
Nachdem die Hotelproblematik geklärt war, machten wir einen abendlichen Stadtspaziergang. Da Feiertag war, hatte sich die Stadt mit Menschen gefüllt und die Hauptstraße war für den Autoverkehr gesperrt ( wie übrigens auch jeden Sonntag!, wie fortschrittlich) Die Stationen waren der Hauptplatz (Maydan/Cherschtaschtik), der Bogen der Völkerverständigung mit einem herrlichen Blick über die Unterstadt, den Hafen und den Dnepr und einem kurzen Spaziergang am Dnepr-Ufer entlang.
Die Stadt ist zwar ganz nett aber elend weitläufig, weswegen uns schon am nächten Tag mörderisch die Füße weh taten. Andr é hatte in der Nacht einen russischen Schokoladenriegel gegessen, was keine so gute Idee war. Er verbrachte die halbe Nacht auf dem Klo und es hörte sich wirklich nicht gut an. Am nächsten Tag war er leider so sehr außer Gefecht gesetzt, daß Konrad und ich am Vormittag allein losliefen und uns die Stadt mit Hilfe des Lonely Planet erschlossen. Am Mittag wollten wir uns mit André treffen und uns gemeinsam das berühmte Höhlenkloster anschauen. Da SMS doch nicht so das perfekte Kommunikationsmedium ist und Konrads Richtungsanweisungen nur für Eingweihte (also für ihn selbst) verständlich sind ;), hatten wir Probleme uns am Mittag mit André in der Metro zusammenzufinden. Irgendwann verlor Konrad die Nerven und zog allein los und ich traf mich mit André 5 min später und folgenten ihm. Leider in die verkehrte Richtung wie sich herausstellte nicht zum Höhlenkloster sondern zum botanischen Garten. André schwächtelte immer noch ziemlich heftig, weswegen wir unsere Suche dann abbrachen, er zurück ins Hotel und ich in die Stadt ging. Es war mittlerweile zu spät für das Kloster, sodaß ich mich entschloß, mir das Podil, die Unterstadt anzuschauen. Ums kurz zu machen, es begann zu regnen, ich wollte als Ausweichmöglichkeit ins Tschernobyl-Museum, fand es trotz einer halben Stunde Sucherei im Regen nicht und kehrte dann pitschnaß, fertig und total entnervt ins Hotel zurück. Dort verschlief ich dann den ganzen Abend. Soviel zu einem ziemlich vergurkten Tag in Kiew.
Weswegen ich ins Tschernobyl-Museum wollte, war unser Ausflug am nächsten Tag. Konrad und ich hatten uns entschlossen, eine Exkursion zum Ort der bisher größten von Menschhand ausgelösten Katastrophe der Geschichte zu machen, zum ehemaligen Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Ich muß gestehen, ich hatte während unserer Reisevorbereitung, den nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag gemacht, sich das mal anzuschauen, man käme ja nicht jeden Tag dahin. Konrad griff die Idee unerwarteterweise auf. Nach einigem Suchen fanden wir auch Reisebüros, die Touren dahin anboten. Indivduell kommt man verständlicherweise nicht in die Sperrzone. Trotz der Tatsache, daß eine Besichtigung der “Zone” relativ ungefählich ist, ging mir Tschernobyl bereits während der gesamten ersten Hälfte der Reise nicht mehr aus dem Kopf und je näher wir dem Ort kamen um so unguter wurde mein Bauchgefühl. In Kiew war ich dann davon überzeugt, daß es eine absolute Schnapsidee war, aber da gab es schon kein Zurück mehr. Die Reise war gebucht.
Mit einem Amerikaner, einem Tschechen, Konrad, dem Fahrer und mir begann die Reise am Freitag um 9 Uhr ins ca. 200 km nördlich von Kiew gelegene Tschernobyl mit einem Kleinbus. André wollte nicht mitfahren und verbrachte den Tag in Kiew. Nach zweistündiger Fahrtzeit erreichten wir die äußere “30-km-Sperrzone” um den Unglücksort. Eigentlich ist das kein 30 km-Radius, weil der radioaktive Fallout durch die Wetterlage in völlig unregelmäßigem Muster nach dem Ungück zu Boden ging. Aber mehr dazu in dem gesonderten Beitrag zum Unglück. Die Kontrollen waren unkompliziert. Das Reisebüro hatte uns mit unseren persönlichen Daten und Paßnummer bereits im Vorfeld angemeldet. Im Ort Tscherbobyl, der mehr als 10 km entfernt vom Kraftwerk liegt, machten wir einen Zwischenstop und trafen unseren Führer von der Ukrainischen Energiebehörde, der uns durch das Gelände führen sollte. Dann gings los. Die Tour führte uns angefangen bei einigen Denkmälern im Ort Tschernobyl, über einen Hafen mit Schiffswracks, über den 10 km-Perimeter um das Atomkraftwerk hinweg nach Pripjat, der 50.000 Seelen-Stadt, die dem Unglücksort am nächsten gelegen war und nach dem Vorfall innerhalb von 36 Stunden evakuiert wurde. In Pripjat sahen wir uns einige Gebäude an bevor wir uns bis auf 200 m dem Sarkophag um den Unglücksreaktor näherten. Direkt vor dem Sarkophag hat die Ukrainische Regierung einen Informationspunkt eingerichtet, der über die Maßnahmen informiert, die im Moment ergriffen werden, um den Reaktor zu sichern. Dort hörten wir uns einen 25 min Vortrag über die Sanierungsarbeiten und die weiteren Pläne zum Umgang mit dem Objekt an. Generell muß ich zum offiziellen Informationsfluß während der Exkursion sagen, daß dieser lückenhaft und wenig vertrauenshaft war. Unser Guide war wenig gesprächig und der Vortrag sehr propagandalastig, sodaß wer sich umfassend über den Unglückshergang und die Folgen informieren will, eher weniger den offiziellen Informationen trauen sondern sich eher ein paar unabhängige Bücher und Berichte besorgen sollte. Aber bei dem Trip ging es auch weniger um die Informationen, sondern mehr um den Eindruck und der war schon sehr nachhaltig. Es gibt zwar nicht so viel mit den Augen zu sehen, weil vieles zugewachsen und verfallen ist oder beseitigt wurde. Aber wenn man sich das Ausmaß des Unglücks und das Ausmaß der Arbeiten vor Augen führt, die danach stattfanden um den Schaden zu begrenzen, dann kann einem nur ein Schauer über den Rücken laufen. Pripjat allein ist schon ein Denkmal für sich. Wie dem auch sei, ich habe mich entschlossen nach meiner Rückkehr nach Deutschland mich etwas näher mit dem Thema Tschernobyl und einzelnen Teilaspekten zu beschäftigen.
Wir hielten uns ziemlich genau eine Stunde in der inneren Zone auf und traten nach einem nachmittäglichen Essen in Tschernobyl, die Rückreise nach Kiew an. So richtig bewußt wo wir eigentlich waren, wurde mir das ganze erst, als wir uns wieder im Großstadttrubel in Kiew befanden. Der Unterschied könnte größer nicht sein, zwischen der Totenstille in Pripjat und dem Leben in Kiew, beide Orte nicht weiter als eine 2-stündige Reise voneinander entfernt. Nach der Rückkehr aus “der Zone” war ausgiebiges Duschen angesagt, die Klamotten habe ich alle gleich im Hotel waschen lassen, die Schuhe haben wir weggeworfen. Sicher ist sicher auch wenn die Strahlenmeßgeräte immer grün geleuchtet haben.
Am nächsten Tag war nochmal eine Stadttour angesagt. Unter anderem über einen Trödelmarkt für Touristen. Es gab nicht nur Trödel auch interessanten Kram. Ich habe einiges Geld dort gelassen ;). Krönender Abschluß des Tages war ein Ausflug zur “Eisenmama”, einer riesigen Statue am Dnepr, DAS Denkmal in Kiew für den “Großen vaterländischen Krieg”. Bei Sonnenuntergang war das ein stimmungsvoller Abschluß bevor wir am nächsten Tag nach Odessa aufbrachen.